Hiobs grösste Angst

Wir haben viele verschiedene Ängste, besonders wenn wir in Notlagen keine Hilfe erhalten (haben). Ich kenne die Angst ganz gut, wenn sich bestimmte Beschwerden ankündigen, die mich in der Vergangenheit an meine Grenzen gebracht haben und ich keine Hilfe erhalten habe. Die Medikamente haben nicht angeschlagen, die Ärzte wussten keinen Rat oder ich musste erst einmal durchhalten, bevor ich Hilfe erwarten konnte, obwohl meine Grenzen bereits überschritten waren. Diese Erfahrung musste ich einmal mehr auf einem fünfstündigen Flug machen.

Sicherlich kennt jeder chronisch Kranke bestimmte Ängste. Angst vor der nächsten (nutzlosen?) Behandlung, den Nebenwirkungen oder vor dem nächsten ärztlichen Gutachten, von dem ein Bescheid abhängt, Angst vor dem nächsten Schub, Angst vor der Zukunft…

Ich weiß nicht, wie lange Hiob bereits schwer krank war, als seine Freunde ihn aufsuchten. Zumindest einige Wochen oder Monate lag er ohne den Beistand seiner Frau in der Asche, überseht von Kopf bis Fuß mit Geschwüren, in denen sich Ungeziefer breit machte. Seine Geschwüre wurden nicht gewaschen und verbunden, er kratzte sie mit Scherben aus. Er konnte kaum noch essen und war bis auf die Knochen abgemagert. Wenn er schlafen wollte, bekam er Alpträume. Das war ein jämmerlicher Zustand. 

Was für eine Angst hatte wohl Hiob?

Gleich in seiner ersten Rede an seine Freunde spricht er davon. Hiob 3,35:

„Denn ich fürchtete einen Schrecken, und er traf mich, und wovor mir bangte, das kam über mich!“

Hier benennt er seine Angst nicht, und sein Freund Eliphas meint genau zu wissen, wovor Hiob sich bereits vor seinem Unglück ängstigte: Hiob hatte viele zurechtgebracht, hatte ermattete Hände gestärkt; den Stürzenden hatte Hiob durch seine Worte wieder aufgerichtet und wankende Knie hatte er gestärkt. Und nun sei Hiob selbst an der Reihe und müsse sich zurechtweisen und stärken lassen.(a) Davor hatte er sich wohl gefürchtet und es ist eingetreten.

Aber was antwortet Hiob? Er erklärt sich so:

O dass doch meine Bitte in Erfüllung ginge, und Gott mein Verlangen gewährte: dass doch Gott sich entschlösse, mich zu zermalmen, seine Hand ausstreckte, um mich abzuschneiden! So bliebe mir noch der Trost — und ich frohlockte darüber im schonungslosen Schmerz —, dass ich die Worte des Heiligen nicht verleugnet habe! Wie groß ist denn meine Kraft, dass ich noch ausharren, und wann kommt mein Ende, dass meine Seele sich gedulden soll? Ist mir denn die Kraft der Steine gegeben? Ist mein Fleisch denn aus Erz?“ (b)

Was bedeutet das? Er flehte Gott an, ihn sterben zu lassen, da seine Kraft am Ende war. Nicht weil er keine Kraft mehr hatte so weiter zu leben, sondern er fürchtete sich in seiner Schwachheit gegen Gott zu sündigen und ihm abzusagen! Wenn er doch nur wüsste, dass ihn Gott bald sterben lassen würde, dann wäre es sein einziger Trost, dass er bisher Gott nicht abgesagt hatte und er würde deswegen trotz seinem schonungslosen Schmerz frohlocken! Mit anderen Worten: Jetzt konnte er keine Garantie mehr geben, wie lange er das noch durchstehen konnte ohne gegen Gott zu sündigen.

Das ist die Angst eines Gerechten.

Bereits im ersten Kapitel wird uns im fünften Vers diese Angst Hiobs vorgestellt.

„Wenn dann die Tage des Festmahls zu Ende waren, ließ Hiob sie (seine Kinder) holen und heiligte sie; er stand früh am Morgen auf und brachte Brandopfer dar für jeden von ihnen; denn Hiob sagte sich: Vielleicht könnten meine Kinder gesündigt und sich in ihrem Herzen von Gott losgesagt haben! So machte es Hiob allezeit.“

Nachdem ihm alles Vieh geraubt und auch die Nachricht von dem Tod aller seiner Kinder überbracht worden war, fiel er überwältigt von Schmerz und Trauer auf die Erde und …fluchte Gott? Nein, er betete an! Er versündigte sich nicht mit seinen Lippen. Seine Gottesfurcht beherrschte ihn, seine Trauer, seinen Schmerz und seine Lippen.(c) Selbst nachdem seine Frau ihn aufforderte – nachdem er schließlich noch schwer krank wurde -, sich von Gott loszusagen und Selbstmord zu begehen, gab er Gott die Ehre und versündigte sich nicht!(d)

Erst als der schonungslose Schmerz ihn lange Zeit gepeinigt hatte und er sich zuerst von Gott und genauso auch von allen seinen Nahestehenden verlassen und ungerecht behandelt fühlte, ging ihm die Kraft aus, weiterhin seinem heiligen Gott, dem Allmächtigen, so treu zu bleiben und sich nicht mit seinen Lippen zu versündigen. Hiob begann sich gerechter darzustellen als Gott.

 

Sünde trennt uns von Gott. Und Hiob liebte Gott und wollte auf keinen Fall von ihm getrennt leben und sterben oder ihn durch sein sündiges Verhalten verletzen. Ein liebendes Herz fügt sich selbst Schmerz zu, wenn es bemerkt, dass es seine(n) Lieben verletzt hat. Die höchste Freude eines liebenden Herzens ist das Glück seines Gegenübers. Und der größte Schmerz eines liebenden Herzens ist das von ihm verursachte Leid in seinen Liebsten.

Ein gläubiges liebendes Herz, das selbst viel Schmerz und Leid ertragen muss, denkt also in besonderer Weise an die Schmerzen und Leiden seines Erlösers Jesus Christus, welche er für die Sünden seiner Kinder ertragen hat. Es erkennt ein wenig mehr, was es Jesus gekostet haben muss, um für die Sünden zu sterben. Was hat Jesus nur gelitten! Welche Schmerzen hatte er am Kreuz erduldet, als er bereits zur Unkenntlichkeit gefoltert und schwach durch den ganzen Blutverlust mit Nägeln an Händen und Füßen ans Kreuz genagelt war? Wie unermesslich groß muss die Freude sein, die er in seiner Liebe für uns mit so einem hohen Preis erkauft hat?

Denke einmal darüber nach. Kannst du ein wenig die Höhe seines Preises für dich erkennen? Bist du bereit mit ihm zu leiden und für ihn zu leiden um der vor dir liegenden Freude in der Ewigkeit? Lege alle deine Ängste unter das Kreuz, denn Christus hat sie für dich getragen und durchgestanden. 

Heiliger Jesus,

Vor dem Kreuz knie ich und sehe
  die Abscheulichkeit meiner Sünde,
  meine Verderbtheit, die dafür gesorgt hat,
  dass du zum Fluch gemacht wurdest,
  das Böse, das die Härte des göttlichen Zorns entfacht.

Zeig mir das ungeheure Ausmaß meiner Schuld durch
  die Dornenkrone,
  die durchbohrten Hände und Füße
  den geschundenen Körper,
  die Sterbensschreie.

Grenzenlos muss das Böse sein und die Schuld,
die einen solchen Preis fordert.

Sünde ist meine Krankheit, mein Ungeheuer,
mein Feind, meine Giftschlange;
  geboren in meiner Geburt,
  lebendig in meinem Leben,
  stark in meinem Charakter,
  beherrschend in meinen Fähigkeiten.

Und doch
  verzehrt sich deine Barmherzigkeit nach mir,
  eilt dein Herz zu meiner Rettung,
  ertrug deine Liebe meinen Fluch,
  trug deine Gnade meine verdienten Striemen.

Dein Blut ist das Blut des Mensch gewordenen Gottes,
  sein Wert ist grenzenlos, 
  seine Kostbarkeit jenseits allen Denkens. (h)

(a) Hiob 4,3-5
(b) Hiob 6,8-12
(c) Hiob 1,20-22
(d) Hiob 2,9-10
(e) Arthur Benett in seinem Buch „Gebete der Puritaner: Erlösung und Versöhnung“, S. 36