Der Schmerz
Schmerz ist ein Werkzeug Gottes.
Was bewirkt Gott unter anderem durch ihn?
Ein Zitat von C.S. Lewis
Der Schmerz ist nicht nur ein unmittelbar erkennbares Übel, sondern eines, das unmöglich ignoriert werden kann. In unseren Sünden und in unserer Dummheit können wir friedlich schlafen; und wer einmal einen Vielfraß beobachtet hat, wie er die köstlichsten Speisen herunterschlingt, als wisse er gar nicht, was er da isst, der wird zugeben, dass wir sogar das Vergnügen ignorieren können. Der Schmerz aber besteht darauf, dass man sich mit ihm befasst.
Gott flüstert in unseren Freuden, er spricht in unserem Gewissen; in unseren Schmerzen aber ruft er laut. Sie sind sein Megaphon, eine taube Welt aufzuwecken. Und ein Mensch, der schlecht ist und zugleich glücklich, ist wirklich ein Mensch ohne die leiseste Ahnung, dass sein Tun nicht ent-spricht, nicht antwortet, dass es nicht in Übereinstimmung ist mit den Gesetzen des Universums.
Kein Zweifel, der Schmerz als Megaphon Gottes ist ein furchtbares Instrument; er kann zu endgültiger reueloser Rebellion führen.
Dennoch ist er für den todkranken Menschen die einzige Gelegenheit der Gesundung.
Er reißt den Schleier weg; er pflanzt das Banner der Wahrheit mitten in die aufständige Festung. (b)
» C.S. Lewis
Du möchtest wissen, wie ich mich selbst benehme, nicht wenn ich ein Buch über den Schmerz schreibe, sondern wenn mir Schmerz widerfährt. Du brauchst nicht lange zu raten, denn ich will es dir sagen:
Ich bin ein großer Feigling. Aber was folgt schon daraus für unsere Frage? Denke ich nur an den Schmerz – an die Angst, die wie Feuer quält; an die Einsamkeit, sich breitend wie eine Wüste; an die herzbrechende Selbstverständlichkeit fortdauernder Armut oder an den dumpfen Schmerz, der einen Menschen mit einem einzigen Schlag außer Gefecht setzt; an Schmerzen, die man bislang schon für unerträglich hielt und die sich dann plötzlich noch verstärken; an Schmerzen, die wie Skorpionstiche einen Menschen, der schon halbtot schien von den vorausgegangenen Qualen, zu wilder Erregung aufpeitschen: Wüsste ich nur irgendeinen Fluchtweg, ich würde durch Kloaken kriechen, ihn zu finden.
Doch was hilft es, dass ich dir von meinen Gefühlen erzähle? Außerdem kennst du sie ja: es sind genau dieselben wie deine eigenen. Ich behaupte nicht, Schmerz sei nicht schmerzhaft. Schmerz tut weh! Nichts anderes meint das Wort. Was ich versuche ist folgendes: Ich möchte dir zeigen, dass die alte christliche Lehre vom Vollkommen-werden-durch-Leiden (Hebräer 2,10) nicht ganz unglaublich ist. Ich denke nicht daran, zu behaupten, dies sei eine angenehme Lehre.
Um aber ihre Glaubhaftigkeit beurteilen zu können, sollte man zwei Grundsätze beachten:
Erstens müssen wir uns daran erinnern, dass der aktuelle Augenblick des gegenwärtigen Schmerzes sozusagen nur das Zentrum eines ganzen Systems von Leiden ist, das sich durch Furcht und Mitleid ausbreitet. Was immer aus diesen Regungen an Gutem resultieren mag – es geht auf diesen Mittelpunkt zurück; so dass, auch wenn der Schmerz selbst nicht (wie Furcht und Mitleid) einen geistigen Wert besäße, er dennoch existieren müsste, damit etwas zum Fürchten und Bemitleiden sei. Dass aber Furcht und Mitleid uns helfen, zum Gehorsam und zur Liebe zurückzufinden, dies kann nicht bezweifelt werden. Jeder von uns hat erfahren, dass Mitgefühl es uns leichter macht, den Nicht-Liebenswürdigen zu lieben – ich will sagen, einen Menschen zu lieben, nicht weil er uns irgendwie sympathisch wäre, sondern weil er unser Bruder ist.
Die Wohltat der Furcht haben die meisten meiner Zeitgenossen während der Zeit der „Krisen“ kennengelernt, die schließlich zum Zweiten Weltkrieg führten. Meine eigene Erfahrung ist diese: Ich gehe meines Weges und komme einigermaßen voran, befangen in dem gewöhnlichen und zufriedenen Zustand von Sünde und Gottlosigkeit; ich denke gerade an eine fröhliche Zusammenkunft morgen mit meinen Freunden, an eine kleine Arbeit, die heute meine Selbstgefälligkeit juckt, ich denke an den Urlaub, an ein neues Buch – da bringt plötzlich ein Stoß heftiger Unterleibschmerzen, die auf eine ernste Erkrankung deuten, oder eine Schlagzeile in der Zeitung, die uns alle die mögliche Vernichtung vor Augen stellt, dieses ganze Kartenhaus zum Einsturz. Zuerst bin ich völlig erschlagen, und all mein kleines Glück nimmt sich aus wie ein zerbrochenes Spielzeug. Dann, langsam und widerwillig, Schritt für Schritt, versuche ich mich in die Verfassung zu bringen, in der ich mich jederzeit befinden sollte. Ich rufe mir in Erinnerung, dass es ja nicht so gedacht war, als sollte ich mein Herz an dieses Spielzeug hängen, dass mein wahres Gut in einer anderen Welt liegt und dass mein einziger wirklicher Reichtum Christus ist. Und vielleicht gelingt es mir durch Gottes Gnade, für ein oder zwei Tage zu einem Geschöpf zu werden, das sich bewusst Gott unterwirft und seine Kraft aus der wahren Quelle schöpft. Jedoch in genau dem Augenblick, in welchem die Bedrohung verschwindet, springt meine ganze Natur zurück zu dem Spielzeug. Ich bin sogar, Gott verzeih mir, darauf aus, das einzige, was mir unter der Bedrohung hilfreich gewesen war, nur ja aus meinem Herzen zu verbannen, weil es sich nun verknüpft zeigt mit der Misere jener wenigen Tage.
Die Furchtbare Notwendigkeit des Leidens ist also nur zu klar. Gott hat mich für nicht länger als achtundvierzig Stunden „gehabt“, und zwar nur dadurch, dass Er mir alles andere sonst wegnahm. Lass Ihn jenes Schwert auch nur einen Augenblick lang in die Scheide stecken – und ich benehme mich wie ein junger Hund, wenn das verhasste Bad vorüber ist: ich schüttele mich trocken, so gut ich kann, und renne davon, um es mir wieder im Dreck bequem zu machen; wenn nicht im nächsten Misthaufen, so doch im nächsten Blumenbeet. Leid kann also gar nicht aufhören – bis Gott sieht, entweder dass wir „neu“ geworden sind oder dass es hoffnungslos ist, uns erneuern zu wollen.
Wenn wir, zweitens, den Schmerz selbst betrachten, das Zentrum jenes ganzen Systems von Leiden, dann müssen wir sorgfältig das, was wir wissen, unterscheiden von dem, was wir uns einbilden. (…) Ein Schriftsteller oder Dichter etwa mag es darauf anlegen, das Leiden so darzustellen, als habe es ausschließlich üble Folgen, als sei es nicht nur die Ursache, sondern auch die Rechtfertigung für jegliche Bosheit und Brutalität. Und natürlich kann Schmerz, nicht anders wie die Freude, so aufgenommen werden.
Alles, was einem freien Geschöpf gegeben wird, ist notwendig zweischneidig; und zwar liegt das weder am Geber noch an der Gabe; der Grund liegt in der Natur des Empfangenden. (…)
Ich bin keineswegs davon überzeugt, dass Leiden jene üblen Folgen von sich aus natürlicherweise hervorbringt. Ich habe in den Schützengräben an der Front oder auf dem Verbandsplatz nicht mehr Hass, Selbstsucht, Aufruhr und Unehrlichkeit angetroffen als an irgendeinem andern Ort. Ich habe große Schönheit des Geistes gefunden bei Menschen, die große Leidende waren. Ich habe die Menschen meist bei vorgerückten Jahren besser und nicht schlechter werden sehen; und ich habe die Erfahrung gemacht, dass die „letzte“ Krankheit Schätze an Tapferkeit und Sanftmut aus Leuten hervorholte, von denen man es nicht erwartet hätte.
*****
Wenn aber Leiden gut ist, sollte es dann nicht eher gesucht als gemieden werden? Darauf antworte ich, Leiden in sich selbst ist nicht gut. Das Gute in aller Erfahrung von Leid besteht für den, dem es widerfährt, darin, dass er sich dem Willen Gottes unterwirft; und das Gute für den Zuschauer ist, dass er durch das Leid zu Mitgefühl und Erbarmen geführt wird.
Dies ist ein Ausschnitt aus dem Buch „Über den Schmerz – Vielleicht ist diese Welt nicht die denkbar beste, aber sie ist die einzig mögliche“ von Seite 93, 96 und ab Seite 105, geschrieben von C.S. Lewis, erschienen im Brunnen Verlag.