Das geknickte Rohr...

…wird er nicht zerbrechen. Gottes weise und liebevolle Rundum-Sorge sorgt bei Elia für Heilung und neue Kraft.

Ein Zitat von Timothy Keller

Es ist nicht richtig, wenn wir Menschen, die in Not und Trauer sind, einfach auffordern, sich zusammenzureißen. Wir sollten ihnen behutsam und geduldig begegnen. Und das bedeutet, dass wir auch gegenüber uns selber behutsam und geduldig sein müssen. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass wir dann, wenn wir nur genügend Gottvertrauen haben, nie weinen und uns nie wütend oder hoffnungslos fühlen werden. 

In Jesaja 42 finden wir eine Beschreibung des geheimnisvollen „leidenden Gottesknechtes“, der, wie wir in Jesaja 53 erfahren, unsere Schuld auf sich nimmt, um durch sein Leiden das Verdammungsurteil, das wir verdient hatten, wegzunehmen. In Jesaja 42,3 heißt es über den Knecht:

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen; wahrheitsgetreu wird er das Recht hervorbringen.

» Jesaja 42,3

Das hier mit „geknickt“ wiedergegebene hebräische Wort bedeutet nicht eine banale Verletzung, sondern eine tief gehende Quetschung, die ein inneres Organ verletzt – also ein Todesurteil. Auf Menschen angewendet, bedeutet es eine Verletzung, die rein äußerlich nicht sichtbar, aber trotzdem tödlich ist. Und wenn eine geknickte Pflanze gemeint ist, muss man an einen Getreidehalm denken, der abgeknickt, aber immer noch in einem Stück ist. Der Halm ist nicht entzweigebrochen, aber aufgrund des Knicks wird er nie mehr eine Ähre tragen können. Doch dieser Gottesknecht kann, was kein anderer kann: den Halm so heilen, dass er wieder Körner hervorbringt.

Wer ist dieser Gottesknecht? Die christliche Kirche hat seit ihren Anfängen in ihm niemand Geringeren als Jesus Christus selber gesehen. Er hat für unsere Sünden gelitten (Apostelgeschichte 8,32-33), und er ist derjenige, der das geknickte Rohr nicht zerbricht und den glimmenden Docht nicht auslöscht (Matthäus 12,20). Was heißt das? Dass es den Gottesknecht Jesus Christus zu den hoffnungslosen Fällen zieht. Er liebt die Zerbrochenen, die, die am Boden liegen und nicht mehr können. Jesus schaut geradewegs in ihre Herzen hinein und weiß, was sie brauchen und wie er helfen kann. Er heilt die zerbrochenen Herzen und verbindet ihre Wunden (Psalm 147,3; Jesaja 61,1)

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Lassen Sie mich ein Beispiel aus dem Alten Testament geben, aus dem Wirken des Propheten Elia, eines großen Mannes Gottes. In 1. Könige 18-19 lesen wir erst von dem gewaltigen Gottesurteil auf dem Karmel – und dann erleben wir mit, wie Elia unter dem Stress seines Dienstes zusammenbricht. Die Menschen wollen nicht auf seine Botschaft hören, obwohl er im Namen des Herrn spricht. Elia ist ein großer Prophet, aber auch ein Mensch, der nur ein gewisses Maß an Widerstand, Enttäuschung und Problemen ertragen kann. Er fällt in eine tiefe Depression, denkt an Selbstmord. Er flieht in die Wüste und sagt Gott: „Herr, ich kann nicht mehr! Lass mich sterben!“ (1. Könige 19,4). Und er legt sich unter einen Strauch und fällt in einen unruhigen Schlaf.

Da haben wir es, das geknickte Rohr und den glimmenden Docht. Und er geht mit seinem Leiden und seinem Stress nicht besonders gut um. Er sagt nicht: „Macht nichts, ich freue mich in dem Herrn!“ Nein, er möchte am liebsten sterben. Da schickt Gott ihm einen Engel – und wissen Sie, was das Erste ist, was dieser Engel macht? Er gibt Elia zu essen.

Gott sendet diesem Mann, der im Leiden steckt, einen Engel. Sagt der Engel: „Tu Buße! Wie kannst du es wagen, nicht auf Gott zu hoffen!“? Nein. Sagt er: „Freu dich! Ich bringe dir frohe Botschaft!“? Nein, auch das nicht. Nimmt er Elia ins Verhör? Nein. Der Engel „rührt ihn an“. Er schüttelt ihn nicht, er berührt ihn sanft, so wie man einen lieben Menschen begrüßt. Und dann bereitet er ihm eine Mahlzeit. Dann lässt er ihn wieder eine Weile schlafen und gibt ihm wieder zu essen und spricht ihm Mut zu: „Du brauchst Kraft für deine weite Reise.“

Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iss! Und als er sich umsah, siehe, da war bei seinem Kopf ein auf heißen Steinen gebackener Brotfladen und ein Krug Wasser. Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen.
Und der Engel des HERRN kam zum zweiten Mal und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss, denn der Weg ist [sonst] zu weit für dich! Und er stand auf und aß und trank, und er ging in der Kraft dieser Speise 40 Tage und 40 Nächte lang, bis an den Berg Gottes, den Horeb.

» 1. Könige 19,5-8

Wenn man dies Szene liest, merkt man, dass dies noch nicht alles ist, was Elia braucht. Letztendlich kommt Gott zu ihm und holt ihn heraus aus seiner Verzweiflung. Er stellt ihm Fragen, er bringt ihn zum Reden, er hinterfragt seine Sicht der Dinge und zeigt ihm, dass die Lage doch gar nicht so hoffnungslos ist, wie er denkt. Und er zeigt ihm, dass er nach wie vor einen Plan für Israel hat (1. Könige 19,9-18).

Doch vernünftig mit Elia zu reden und ihm die Lage zu erklären ist nicht das Erste, was Gott tut. Er weiß, dass sein Prophet auch einen Körper und ein Nervenkostüm hat. Seine Batterien sind leer, er braucht Ruhe und etwas Vernünftiges  zu essen. Und jemanden, der ihn in den Arm nimmt. Erst später führt Gott sein Motivationsgespräch mit Elia. Wir sehen in diesem Text eine erstaunliche Ausgewogenheit. Heute sehen manche das Problem der Depression ja nur als Störung des Körpers und der Gehirnchemie; der Depressive braucht halt die richtigen Medikamente und Ruhe und Entspannung. Andere – oft Christen – sehen nur die geistliche Seite und fordern den Depressiven auf, den Kopf nicht hängen zu lassen, Buße zu tun, mit Gott ins Reine zu kommen und sich zusammenzureißen.

In dieser Geschichte mit Elia zeigt Gott uns, dass wir Menschen komplexe Wesen sind; wir haben einen Körper und eine Seele. Eine einseitige Therapie würde das geknickte Rohr vollends zerbrechen und den glimmenden Doch auslöschen, und das tut Gott nicht. Es kann durchaus sein, dass ein Mensch, der innerlich am Boden liegt, zur richtigen Zeit herausgefordert werden muss, sich den Dingen zu stellen. Vielleicht braucht er aber zuerst einen Spaziergang am Strand und gutes Essen.

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Jesaja 42 sagt uns, dass Jesus behutsam mit den Verletzten und Zerbrochenen umgeht. Ein britischer puritanischer Pastor aus dem 17. Jahrhundert. Richard Sibbes, schrieb einen Klassiker mit dem Titel The Bruised Reed and Smoking Flax („Das geknickte Rohr und der glimmende Docht“). Darin schreibt er unter anderem:

Willst du Christi Gnade für die geknickten Rohre erkennen? Dann betrachte die Namen, mit denen er sich nennen lässt und die von den sanftesten Kreaturen stammen, wie dem Lamm oder der Henne (Lukas 13,34). Schau, wie Jesus die zerbrochenen Herzen heilt (Jesaja 61,1) und wie bei seiner Taufe der Heilige Geist in Gestalt einer Taube auf ihn kam, um uns anzuzeigen, dass er als unser Mittler sanft wie eine Taube wäre. Höre seinen Ruf: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“ (Matthäus 11,28). Er ist ein Arzt, der aller Gebrechen kundig ist. Er starb, um unsere Seelen mit der Medizin seines eigenen Blutes zu heilen. Fürchte dich nie, zu Gott zu gehen, haben wir doch einen Mittler, der nicht bloß unser Freund ist, sondern unser Bruder und Bräutigam. Lasst uns daran festhalten, wenn wir uns geknickt fühlen. Denke daran: … Wenn Christus so gnädig ist, dass er mich nicht zerbricht, will ich mich auch nicht selber durch ein verzweifeltes Herz zerbrechen. …

» Richard Sibbes

Das Zitat stammt aus der Feder von Timothy Keller, aus seinem Buch „Gott im Leid begegnen“, Seite 298-301, Brunnen Verlag.